Frankfurter Allgemeine Zeitung
Brasilien
Sie denkt schon morgens nur ans Flirten
10.07.2013
Wo Brasilianer eher Ponchos als Bikinis tragen: Im Bergland Brasiliens leben noch echte Gaúchos, die zwar Rinder züchten, aber keine Cowboys sind. Und mit etwas Glück trifft man sogar die glorreichen Drei.
Von Inka Wichmann
Zuckerrohrschnaps schwappt im Marmeladenglas. In der Scheune riecht es nach Rauch. In einer Ecke lodert Feuer, ein Brandeisen glüht. André, Hermani und Karim Macari klatschen, pfeifen, johlen – sie wollen ein Rindvieh in den Holzverschlag treiben. „Hey, hey, hey!“, rufen sie. Doch das Hufgetrappel übertönt ihre Schreie. Als alles Klatschen, Pfeifen und Johlen nichts nutzt, greift einer der Gaúchos zum Besenstiel. Lautes Muhen, noch lauteres Murren. Aber das Tier stolpert in den Verschlag, das Gitter schließt sich. Drei weitere Männer stehen parat.
Der erste setzt eine Spritze an: Schutzimpfung. Der zweite drückt das glühende Eisen ins Fell: Brandzeichen. Der dritte stutzt mit einer blutverklebten Säge die Hörner. Als das Gatter sich öffnet, hastet das Vieh davon. Wieder machen sich alle bereit. „Ho, ho, ho!“, brüllen sie. Es liegt noch eine lange Nacht vor den Brüdern Macari in Bom Jardim da Serra.
Drei Brüder, dreimal breite Hüfte, dreimal hohe Stiefel: André, Hermani und Karim Macari kümmern sich um den Hof, den die Familie seit hundert Jahren bewirtschaftet. Hundertfünfzig Rinder, achtzig Schafe, dreißig Pferde – dazu zweihundertfünfzig Hektar Land. Damit lassen sich keine drei Familien ernähren. Also arbeiten die Männer unter der Woche als Landschaftsingenieur, als Rechtsanwalt und als Umweltmanager. Aber stehen nun, an einem Samstagabend, in der Scheune. Alle drei nippen am Bier. Irgendwann knurren die Mägen. Als eine Frau den Kopf in die Scheune steckt, gibt es nur eine Frage: Wann, was, wo soll gegessen werden? Doch dann bindet sich einer der Männer eine Lederschürze um, einer schärft das Fleischermesser, einer schürt das Holzfeuer. Schnell müssen die Brüder noch sechzig kleine Stiere kastrieren.
Die Hufe strampeln, der Körper bebt
Das Bergland von Santa Catarina ist die frostigste Region Brasiliens. Hier, knapp hundert Kilometer von der Küste entfernt, weht im Sommer ein kühler Wind, und im Winter fällt mitunter Schnee. Dann beißt der Raureif sich fest, und bei 10 Grad unter null gefrieren in den Schluchten manche Wasserfälle. Dass die Apotheke „Lipo Life Summer Tea“ mit Erdbeergeschmack für die Strandfigur verkauft, ändert nichts daran: Hier trägt man besser Poncho als Bikini.
Über Cowboys wissen wir fast alles. Die Selbstgedrehten hängen im Mundwinkel, die Filzhüte hinunter bis zu den Augenbrauen. Dafür hat Howard Hawks gesorgt, mit „Red River“, 1948 gedreht, in dem ein unnachgiebiger John Wayne vom bitterarmen Texas ins bessergestellte Missouri ziehen will. Mit zehntausend Rindern. Seither haben wir Bilder im Kopf von Flussüberquerungen mit riesigen Herden und von Stampeden, bei denen unter Hufen reichlich Staub aufgewirbelt wird. Aber es sind ja nicht nur freiheitsliebende Viehhirten durch den Norden, sondern auch durch den Süden des Kontinents gezogen. Ihnen hat nur kein Howard Hawks je ein Denkmal gesetzt.
Wer erfahren will, was Gaúchos ausmacht, muss die Gaúchos besuchen. Unterschied Nummer eins zu den Cowboys von Howard Hawks: Sie wollen nicht auf ihre Familie verzichten; im Gegenteil – die anderen Familienmitglieder arbeiten mit. Die Mutter der Brüder Macari kauert im bordeauxroten Pullover und geblümtem Tuch neben dem Feuer, auf den Knien eine Liste, auf der sie die Tiere einträgt. Sieben Rinder drängen sich in eine Ecke. „Pff, pff, pff“, machen die Helfer. Das Lasso fliegt: Das Hanfseil wickelt sich um ein Paar Vorderbeine. Das Vieh sinkt in den Staub. Die Hufe strampeln, der Körper bebt, als ein Gaúcho sich auf das Tier wirft. Erst nimmt er noch einen Schluck Bier. Dann krempelt er die Ärmel hoch und zückt das Messer. Ein anderer Helfer reicht ihm eine Schale mit Salz. Die Mutter kritzelt einen Haken auf die Liste.
Folklore im Geiste der Gaúchos
Howard Hawks' Cowboy verriet kein Sterbenswort über Herzensangelegenheiten. Und nicht einmal über sein Selbstverständnis als Cowboy hätte er am Lagerfeuer geplaudert. Die Gaúchos der Gegenwart hingegen, Unterschied Nummer zwei, referieren recht gerne über das Gaúchotum – vor allem Ivan Cascaes, ein Nachbar der Brüder Macari, der zwanzig Autominuten entfernt wohnt. Er hat sich am höchsten Punkt der Serra do Rio niedergelassen und dort die Ferienanlage „Rio do Rastro Eco Resort“ eröffnet. Nun rutscht er mit seinem Stuhl dicht an den offenen Kamin. Die Temperaturen sind hier, auf fünfzehnhundert Metern Höhe, auf fünf Grad gesunken. Das Holz glimmt. In seinem Rücken hängt ein Gemälde, das eine Fazenda zeigt, eine Rinderfarm.
Der Gaúcho, erzählt Ivan Cascaes, ist ursprünglich ein Viehhirte, der außerhalb der Siedlungen lebt. Sein Hab und Gut umfasst ein Lasso, ein Messer und ein Pferd, das ihn zwei Wochen über die Hochebene tragen kann, fast ohne Pause, fast ohne Futter. Der Gaúcho schert sich nicht um Besitztümer. Seine Freiheit ist ihm wichtiger, seine Liebe gilt dem Land. Er kommt, wann er will; er geht, wann er will. Ivan Cascaes hat sich inzwischen von seinem Stuhl mit dem Schaffell erhoben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er steht mitten im Raum, im karierten Hemd und dem großen Hut. Klar, dass der Gaúcho auch mal zockt, sich prügelt, zecht. Doch seinen Freunden ist er eine Stütze, gutmütig, hilfsbereit, verlässlich. So der Mythos. Aber nicht viele Gaúchos fangen heute noch Rinder, sagt er, und sind dazu unterwegs in der schier endlosen Weite. Andere Traditionen aber halten sie in Ehren, zum Beispiel die Musik.
So auch Ivan Cascaes. Während die Brüder Macari noch auf dem Hof rackern, richtet er eine kleine Bühne her, baut eine Trommel auf und holt sich eine Flasche Rotwein. Neben ihm machen sich zwei Musiker bereit: Der eine schnappt sich eine Gitarre, der andere ein Akkordeon. Die Gäste bibbern an den Tischen. Ein Hund hat sich so dicht ans Feure gelegt, dass ihm die Glut ins Fell fliegt. Auf dem Grillrost garen Hühnerherzen, die ein Koch mit Salz bestreut. „Sie denkt schon morgens nur ans Flirten“, singt das Grüppchen um Ivan Cascaes ins Mikrofon. „Sie erwacht geschminkt und denkt schon morgens nur ans Flirten.“ Mit Kniebundhosen und Lederstiefeln, mit Reifrock und Spitzenschal wirbelt ein Paar über die Tanzfläche. Bisschen arg Folklore? Schon. Aber im Geiste der Gaúchos.
Den Lonesome Cowboy kann sich keiner mehr leisten
Die Cowboys von Howard Hawks schinden ihre Pferde – manchmal brauchen sie zwei am Tag. Die Gaúchos der Gegenwart schonen ihre Pferde auch nicht: Ivan Cascaes händigt seine Herde am nächsten Morgen Touristen aus. Der Matsch saugt an den Hufen. Tiririca mit grauschwarzer Mähne und weißbraunem Fell trottet auf die Koppel und von der Koppel zum See. Der Nebel wabert so dicht, dass die Reiter kaum den nächsten Zweig ausmachen können, unter dem sie sich wegducken müssen. Die linke Hand liegt auf dem Knauf, die rechte hält die Zügel. Wie bei einem wahren Gaúcho? Vielleicht. Der Cowboy freilich würde das nicht tun. Der Knauf ist tabu, den fasst keiner an. Der ist fürs Lasso. Also doch ein Unterschied? Der dritte.
Zwei Kommandos hat Ivan Cascaes den Neulingen eingeschärft: mit der Zunge schnalzen und die Knie fest in den Pferdeleib drücken – so geht es los. „Brr“ rufen und mit den Zügeln den Pferdehals zurückziehen, dann sollte das Tier stehen bleiben. Doch während die anderen Pferde gehen, nagt Tiririca an ein paar Zweigen; während die anderen Pferde stehen, trippelt Tiririca in den Nebel.
Den Typ Cowboy, wie Howard Hawks ihn zeigte, gibt es nicht mehr. Er musste einsehen, dass sein Heil andernorts liegt, wenn man denn von Heil sprechen möchte. Auch die Gaúchos der Gegenwart denken um: sie können sich auf die Rinderzucht allein nicht mehr verlassen. Manche wandten sich dem Fremdenverkehr zu, Höfe wurden zu Feriendomizilen.
Den Lonesome Cowboy zu spielen, kann sich niemand erlauben. Natürlich kennt Ivan Cascaes die Andenkenverkäuferinnen, die neben der Schlucht Wollmützen verkaufen. Er grüßt den Nachbarsfarmer, der im Café sitzt und Milchkaffee trinkt. Und mit seinem Telefon, das alle dreieinhalb Minuten klingelt, hält er engsten Kontakt zur ganzen Welt – und ist unentwegt am Organisieren: Ein Besuch im Einwanderermuseum? Schnell organisiert. Eine Probe im Weingut? Kein Problem. Und am liebsten würde er uns noch zu den größten Wasserfällen der Gegend schicken. Wir aber sitzen schon im Bus, der gleich den Serpentinen hinunter zur Küste folgen wird. Der Fahrer schaltet das Radio an. Nach wenigen Takten stimmt er ein: „Santa Catarina, dein Volk singt für uns, sodass die Traurigkeit verfliegt; Santa Catarina, wir danken dir für das heilige Land.“ Das könnten auch Cowboys singen.
Informationen zu Santa Catarina gibt es im Internet unter:
www.santacatarina.travel. TAM fliegt für etwa 1000 Euro von Frankfurt über São Paulo nach Florianópolis.
„Aventura do Brasil“ (www.aventuradobrasil.de) bietet Reisen in die Region an.
Diese Reise wurde von beiden Unternehmen sowie der Tourismusbehörde Santa&bela Catarina und der Stuttgarter Messe CMT unterstützt.