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Die Architektur der Favelas – Im Labyrinth der Treppen und Gassen

29.03.2021
Favela Rocinha in Rio

Wer sich vor einer Brasilien Reise mit den gesellschaftlichen Umständen und sozialen Entwicklungen in Brasilien befasst, stößt schnell auf die Favelas, die Wohnviertel der armen Bevölkerungsgruppen der Großstädte. Der Begriff der Favela ist im Allgemeinen mit chaotischen Elendsvierteln, Drogenkonsum und hohen Kriminalitätsraten verbunden. Aber die informellen Wohnviertel befinden sich im Wandel, bieten Raum für Kulturveranstaltungen und neue Konzepte für die urbane Entwicklung und werden zunehmend vom Tourismus und Künstlern entdeckt. Einige entwickeln sich sogar zu den neuen Szenevierteln der Stadt. Die Architektur und Bauweise der Favelas dienen als Inspirationsquelle für Urbanisten und Städteplaner weltweit.

Brasilien Reisende sehen meist schon bei Ankunft auf dem Weg vom Flughafen einige der berüchtigten Armenviertel. Der Blick sollte jedoch nicht nur von den Negativschlagzeilen geprägt werden, sondern auch das große Potenzial sehen, das diese Schmelztiegel der brasilianischen Kultur und sozialer und urbaner Entwicklung für die Zukunft Brasiliens bereithalten.

Chaos mit Struktur – Ein Meer aus Dächern, Wegen, Treppen

Die scheinbar wild zusammengewürfelten Häuser, die über kleine Gassen, verwinkelte Treppen, Übergänge und Dachterrassen miteinander verbunden sind, geben unter architektonischen und urbanen Gesichtspunkten neue Perspektiven der Stadtentwicklung. Den Favelas der Arbeiterviertel nahe der Stadtzentren wird auf Grund der Lage, der schönen Aussicht, der bestehenden Natur inmitten der Stadt und sinkender Kriminalität eine hoffnungsvolle Zukunft vorausgesagt. Während die steilen Hänge früher keine attraktiven Wohnlagen bieten konnten, so zieht es heute sogar die Oberschicht, reiche Ausländer und Künstler in die befriedeten Favelas nahe der Copacabana. Zudem findet man eine ganze Stadt im Kleinformat. Es gibt Schulen, Gesundheitszentren, Geschäfte, Friseure, Handwerker, Restaurants, Bars und Bäckereien.

Die Entstehung geht ohne Planung vonstatten und passt sich an die Lebensumstände und Bedürfnisse ihrer Bewohner an. Dabei sind viele dieser informellen Wohnviertel durchaus gut organisiert, mit eigener Gemeindeverwaltung und Bürgerverbänden. Die Häuser werden eigens entworfen und gebaut von ihren Bewohnern, die meist selbst auf den offiziellen Baustellen der Stadt arbeiten. Innerhalb der Favelas gibt es eigene Bauspezialisten, die die Baustellen betreuen. So hat jede Familie, oder auch jede Favela, ihre ganz eigene Bauweise und Architektur. Die Bewohner tauschen sich dabei untereinander aus, lernen aus Erfolgen und Fehlern, die bei abstürzenden Häusern fatal sein können, und entwickeln so ein Gemeinschaftswissen fernab der Universitäten.

Die Bauweise und Architektur der Favelas haben auch einen richtungsweisenden ökologischen Aspekt. Für die Häuser selbst werden Reste von Baumaterial, Fenstern und Türen abgerissener Häuser und weggeworfene Alltagsgegenstände in oft sehr kreativer Weise verwendet. Die Gerüste aus Stahl und Beton sind sehr stabil und langlebig. Manche überdauern bereits seit den 1950er Jahren einige Häuser, denn der Hausbau ist ein langer dynamischer Prozess ohne festes Ende, der über einige Generationen vonstatten geht. Die Wände werden oft mit dem erstbesten verfügbaren Material gefüllt. Dabei entsteht ein Mosaik aus Plastikplanen, Deckenverkleidungen oder Holzbrettern, das dann erst später, wenn neue finanzielle Mittel vorhanden sind, durch Backsteine und solide Fenster ausgetauscht wird. Während des Prozesses entstehen Anbauten, neue Stahlgerüste und alte Wände werden eingerissen, deren Material wiederum neu verwendet wird. Die Häuser sind ein Mix aus Stahl, Beton, Lehmziegeln, Backsteinen, Zement, Natursteinen, Holz, Fliesen, Metall und Plastik.
Innerhalb der Favelas entsteht so eine eigene Bauweise und Architektur mit Merkmalen wie inhomogenen Fliesen auf Böden und an Wänden, dem Gebrauch unterschiedlichster neuer und alter Materialien, und ein rustikales, farbenfrohes Erscheinungsbild.

Favelas wachsen um die Städte Brasiliens

Erst zu Beginn der 1990er Jahre, als bereits über 40 Prozent der Bevölkerung in Rio de Janeiro in Favelas lebte, begann die Urbanisierung der Stadtviertel, portugiesisch bairro, mit Hilfe internationaler Fördergelder. Im Jahr 1994 startete das Pilotprojekt ''Favela-Bairro'' mit großem Erfolg und Zuspruch innerhalb der Bevölkerung, welches später in weitere Städte übertragen wurde.

Zu den Hauptaufgaben des ''Favela-Bairro Urbanisierungsprogrammes'' gehört die Installation der grundlegenden Infrastruktur eines Wohnviertels. Dazu zählen die Wasser- und Stromversorgung, Kanalisation, Stabilisierung der Hanglagen und Aufforstung, Müllentsorgung und die Einrichtung gemeinschaftlicher Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitszentren und ähnlichem, und die Regularisierung der Grundstücke. Dieser Prozess ist bei Weitem nicht abgeschlossen, da sich die Favelas weiterhin in und um die Städte ausbreiten und jedes kleine Fleckchen bebaut wird.

Viele der Favelas grenzen heute nahtlos, Mauer an Mauer, an die reichsten Viertel der Stadt. Beispiele dafür sind die Favelas Babilonia in Leme, Cantagalo in Ipanema und Vidigal am Ende Leblons in Rio de Janeiro. Hier sind die Unterschiede von Arm und Reich unübersehbar und die Welten und verschiedenen Lebensrealitäten prallen aufeinander.

Favelas – Die neuen Altstädte und Künstlerviertel von morgen

Früher platzsparend und eng gebaute Stadtviertel der Innenstädte sind heute weltweit florierende Touristenzentren, Szene- und Künstlerviertel. Beispiele für eine solche Entwicklung finden sich zahlreich in den berühmten Metropolen der Welt, wie Montmartre in Paris und SoHo in New York. Auch diese Stadtviertel waren einst von Kriminalität, katastrophalen hygienischen Zuständen und extremer Armut geprägt.

Brasilien Reisende sollten beim Anblick der Favelas oder einem Gang durch die autofreien verwinkelten Gassen diese Entwicklung vor Augen haben. Der günstige Wohnraum nahe am Stadtzentrum beherbergt neben den gering verdienenden Arbeitern und Tagelöhnern auch Künstler, Studenten, Migranten und Zugezogene. Das dichte Miteinander, die Lebendigkeit und Fülle an kleinen Geschäften und Wohnhäusern erinnert viele Besucher an mittelalterliche Städte, die heute unter Denkmalschutz stehen.

Mit wachsender Infrastruktur, Sicherheit, Sauberkeit und Angeboten für Touristen, haben die Favelas alle Voraussetzungen die Touristenzentren und pittoresken Altstädte der Zukunft zu werden.
Seit einigen Jahren haben sogar Film-, Literatur- und Musikfestivals die Favelas als Austragungsort entdeckt. Die Voraussetzung dafür ist natürlich die öffentliche Sicherheit, die nur gegeben werden kann, wenn die Bewohner der Favela direkt von den Veranstaltungen profitieren und diese mittragen.
Beispiele für eine solche Erfolgsgeschichte sind die Kunst- und Kulturfestivals ''Favela em Casa'' und ''Favela Sounds'' in São Paulo oder das Bücherfest ''FLUPP'' in Babilonia und Vidigal in Rio de Janeiro.

Favelatouren – Unwürdiger Zoobesuch oder eine Chance für nachhaltigen Tourismus?

Bei einem Brasilien Urlaub steht der Besuch einer Favela wohl bei den Wenigsten auf der Wunschliste. Doch nach internationalen Filmerfolgen von beispielsweise City of God, Tropa de Elite und Musikvideos von Michael Jackson oder Pharrell Williams, wurde ein Favelabesuch gerade unter Rucksacktouristen und Künstlern populär.

Inzwischen gibt es unzählige Angebote in Rio de Janeiro die Viertel bei einem Ausflug zu besuchen und der Begriff der Favelatour ist bereits Bestandteil des lokalen Tourismus. Aber diese Touren sind kritisch zu betrachten, da es abgesehen vom Sicherheitsaspekt auch moralische und soziale Bedenken gibt, wenn Touristen wie bei einer Abenteuertour oder sozialen Safari zum Fotografieren durch die Favelas gefahren werden.

Es gibt jedoch auch Beispiele für gelungene Konzepte eines nachhaltigen Tourismus, der auf die Kultur der Bewohner, der Gemeinschaft und ihrer Besonderheiten zielt. Dazu gehört ein Besuch in Babilonia, einer befriedeten Favela am Hang des Morro do Leme mitten im Zentrum von Rio de Janeiro, nur wenige Gehminuten vom Strand entfernt und mit traumhaften Ausblicken über die Copacabana bis hinauf zur Christusstatue. Lokale Guides, die selbst mit ihren Familien in Babilonia leben, geben Einblick in das reale Leben der Menschen und Besucher können ein Schulprojekt und ein Aufforstungsprojekt besuchen. Die Einnahmen gehen dabei direkt an die Gemeinschaft und helfen so der nachhaltigen Entwicklung des Tourismus innerhalb der Favela. Da inzwischen von den Anwohnern auch kleine Gasthäuser, Bars und Restaurants eröffnet wurden, werden zudem Arbeitsplätze vor Ort geschaffen und eine Möglichkeit für die Menschen mit den Besuchern ihrer Stadt zu interagieren. Das verwinkelte Labyrinth der Gassen und Treppenaufgänge und die ineinander verschachtelten Häuser, die meist ganz ohne Ingenieure an den Steilhang gebaut wurden, sind ein beeindruckendes Beispiel für aus der Not geborene Kreativität, Effizienz und architektonische Lösungen.

Der Besuch einer Favela, oder im Falle der Babilonia besser gesagt einer Comunidade, deutsch Gemeinschaft, ist ein außergewöhnliches Erlebnis, das bei einem Brasilien Urlaub das Bild der brasilianischen Gesellschaft vervollständigen kann.

Quellen: www.archplus.net/de/archiv/ausgabe/190/#article-2926, www.failedarchitecture.com/learning-from-brazils-architect-of-the-poor,
Verena Andreatta: Favela-Bairro, un nuevo paradigma de urbanización para asentamientos informales,
Marc Angélil und Rainer Hehl: Building Brazil!, 2011

Quelle: Aventura do Brasil